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Die Geschichte von ChristianEs ist Christians Geburtstag. Durch die Wohnung zieht der süße Duft von frisch gebackener Käsetorte, Christians Lieblingskuchen. Einige Stunden später. Erst zögernd, dann immer heftiger pocht die Mutter gegen die Badezimmer-Tür. „Mach doch auf, Christian“, schreit sie immer wieder. Keine Antwort. Schließlich rennt sie einige Stockwerke tiefer, holt den Hausmeister. Der bricht die Tür auf. Zu spät: Christian ist tot – mit einem Gürtel hat sich der Vierzehnjährige erhängt. Innerhalb weniger Stunden ist die scheinbar heile Welt der Familie in sich zusammengestürzt. Immer wieder in den nächsten Tagen zermartern sich die Eltern den Kopf mit der Frage: „Was haben wir bloß falsch gemacht?“ Sie durchblättern Christians Notizblöcke und Bücher, hören seine Kassetten ab – alles, um vielleicht einen Hinweis darauf zu bekommen, „warum er das getan hat?“. Diese Frage müssen sich immer mehr Eltern stellen. Selbstmord rangiert in der bundesdeutschen Statistik nach Verkehrsunfällen bereits als zweithäufigste Todesursache unter Jugendlichen. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Zahl der Selbstmorde junger Menschen fast verdreifacht. Mehr als 500 Kinder und Jugendliche setzen bei uns jedes Jahr ihrem Leben ein Ende. Über 15 000 Selbstmordversuche werden rechtzeitig entdeckt: Experten sprechen zudem von einer hohen Dunkelziffer. So wie Christian könnten viele der jungen Selbstmörder heute noch leben, hätte die Umwelt, hätten vor allem die Eltern, Klassenkameraden oder Freunde rechtzeitig auf die Warnsignale geachtet, die fast jedem Selbstmord vorausgehen. Denn kaum ein Jugendlicher bringt sich „über Nacht“ um, tötet sich völlig unvorhersehbar und impulsiv. Meist ist der Selbstmord nur der letzte Schritt auf einem langen Weg der Enttäuschungen, Krisen, unbewältigten Konflikte. Sicher: ganz kann man einen Selbstmord wohl nie enträtseln. Aber auch bei Christian lässt sich der Weg in den selbst gewählten Tod zurückverfolgen. Er ist das Protokoll eines allmählichen Scheiterns an einer Umwelt, die einen jungen Menschen zu sehr einengt, belastet und schließlich erdrückt. Christian wächst in einer geordneten Familie auf. Vor drei Jahren ist die Familie hier ins Hochhaus gezogen. Doch nur Christian gelingt es, in der neuen Umgebung schnell Anschluss zu finden. Die Eltern und seine beiden Schwestern hingegen leben recht isoliert. Christians Vater hat sich aus kleinen Verhältnissen zum Angestellten in verantwortlicher Position hochgearbeitet, ist sehr ehrgeizig und streng. Er möchte, dass sein Sohn es später einmal leichter hat als er. So kommt Christian aufs Gymnasium, schafft es dort aber nicht und muss schließlich auf die Realschule überwechseln. Er ist dort zunächst ein guter Schüler. Doch bringt er mal eine Vier oder gar eine Fünf nach Hause, gibt es gleich Schelte und Ärger. Aus Angst verheimlicht Christian oft schlechte Noten. Ordnung und Disziplin stehen hoch im Kurs bei Christians Eltern. Christians Zimmer – so erzählt sein Freund Klaus – war immer so mustergültig aufgeräumt, als habe er gar nicht darin gespielt. Nur selten baut Christian seine Eisenbahn auf. Dem Freund erzählt er den Grund dafür: Die Bahn mache seiner Mutter zuviel Dreck auf dem Teppich. Klaus: „Der durfte nichts, rein gar nichts.“ Immer wieder Verbote, Schranken, Grenzen, auf die Christian stößt. Die Mutter ist sehr besorgt um Christian, fast schon überängstlich. „Ich hatte immer Angst, dass ihm etwas passiert“, sagt sie. So muss Christian schon immer sehr früh zu Hause sein. Und er fügt sich. Christian jedenfalls wagt es viel zu selten, sich auch einmal gegen seine Eltern aufzulehnen, wie das in seinem Alter normal und notwendig wäre. Außerhalb des engen Kreises seiner Familie freilich, unter seinen Kameraden, ist Christian wie umgewandelt. Hier wird der eigentlich eher sensible Junge schnell aggressiv. Immer wieder will er auch gegenüber seinen Freunden als besonders mutig und unerschrocken erscheinen, kehrt den „Helden“ heraus. Klaus: „Ich hatte manchmal das Gefühl, er wollte mit seinem Leben spielen.“ Einmal balanciert Christian über das schmale Geländer einer hohen Brücke, ein anderes Mal sticht er sich eine Nadel unmittelbar neben der Pulsader ein. Gegenüber seinen Freunden prahlt er: „Ich habe keine Nerven.“ Seine übertriebenen Aggressionen, die Art, wie er mit seinem Leben spielt – das sind bereits klare Warnsignale dafür, dass Christian mit sich und seiner Umwelt nicht mehr richtig fertig wird, dass er seelisch krank ist. Doch es gibt noch andere. So erinnert sich die Mutter, dass er den Vater oft gefragt habe: „Papi, wie ist das, wenn man stirbt?“ Doch all dem schenken die Eltern damals keine besondere Aufmerksamkeit. Sie werden auch nicht wach, als Christian sich – einige Wochen vor seinem Selbstmord – schon einmal den Gürtel seines Bademantels um den Hals legt und die Schlinge solange zuzieht, bis ihm schwarz vor Augen wird. Deutlicher und alarmierender kann ein Warnzeichen nicht sein! Doch wie ist das Echo der Eltern auf diesen „Schrei nach Hilfe“? Anstatt mit Christian sofort zu einem Arzt, am besten gleich zu einem Psychotherapeuten zu gehen, mit ihrem Sohn endlich eingehend über seine Probleme zu sprechen, ihm ihre besondere Zuwendung und Liebe zu schenken, weisen sie ihn zurecht. Wie Christian einige Tage später seinen Freund erzählt, habe die Mutter nur ärgerlich gesagt: „Damit du nicht wieder solche Dummheiten machst, müssen wir wohl noch strenger werden.“ Was da in Christian vorgeht – um sich das vorzustellen, bedarf es keiner großen Phantasie. Spätestens von diesem Zeitpunkt an muss er sich völlig alleingelassen fühlen, ohne echtes Vertrauen mehr zu seinen Eltern, ohne einen Ausweg aus den Schwierigkeiten in der Familie. Nun genügt schon ein kleiner Anlass, um das auszulösen, was Christian offenbar als einzige Lösung seiner Probleme ansieht: den Selbstmord. Dieser kleine Anlass, so scheint es, ist dann die Fünf in Erdkunde, die er an diesem Freitag, seinem Geburtstag, im Halbjahreszeugnis mit nach Hause bringt. Sein Klassenlehrer meint zwar später: „Ich habe nicht gemerkt, dass es ein Schock für ihn war.“ Doch wie nahe Christian diese Fünf wirklich ging, weiß niemand. Fest steht, dass Christian, bevor er sich umbringt, sich noch zweimal hilfesuchend an seine Umwelt wendet. Seiner 14 jährigen Freundin Karin erzählt er – etwas verschwommen – er wolle wegfahren und auch am nächsten Montag nicht zur Schule wiederkommen. Der Freundin kommt das seltsam vor, aber sie fragt nicht weiter nach. „Er hat da so wirr geredet“, erzählt sie später. Gegenüber seinen Schwestern sagt Christian es dann ganz unverhohlen: „Ich bringe mich um. Ihr werdet es schon sehen.“ Vielleicht hofft er da noch insgeheim, dass die Schwestern zur Mutter laufen, ihr von der Drohung erzählen, dass die Mutter ihn davon abbringt, dass dann alles wieder gut wird. Doch die beiden Mädchen nehmen Christians allerletzte, verzweifelte Warnung nicht ernst, kümmern sich nicht weiter drum. Da geht er ins Bad und schließt die Tür hinter sich zu ... Aufgabe 19. Beantworten Sie die Fragen: 1.Nennen Sie versteckte oder zielgerichtete Hinweise auf den Selbstmord von Christian. 2. Was können die Gründe für den Selbstmord gewesen sein? 3. Wenn Sie in einer solchen Situation wären, wie würden Sie reagieren? 4. Wie könnte eine Sensibilisierung für selbstmordgefährdete Jugendliche erfolgen?
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