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Der Tod in Venedig




Markusplatz in Venedig, von wo Gustav von Aschenbach mit der Gondel zum Lido übergesetzt wird. (Gemälde von Renoir)

Grandhotel Excelsior am Lido, das im Tod in Venedig mehrfach erwähnt wird.

Der Tod in Venedig ist eine Novelle von Thomas Mann, die 1911 entstand, 1912 erstmals in Die Neue Rundschau[1] publiziert wurde und anschließend als Einzeldruck im Hyperion Verlag München (1912) erschien.

Thomas Mann selbst nannte seine Novelle die Tragödie einer Entwürdigung: Gustav von Aschenbach, ein berühmter Schriftsteller von etwas über fünfzig Jahren und schon länger verwitwet, hat sein Leben ganz auf Leistung gestellt. Eine sommerliche Erholungsreise führt ihn nach Venedig. Dort beobachtet er am Strand täglich einen schönen Knaben, der mit seiner eleganten Mutter und seinen Schwestern samt Gouvernante im gleichen Hotel wohnt. In ihn verliebt sich der Alternde. Er bewahrt zwar stets eine scheue Distanz zu dem Knaben, der späte Gefühlsrausch jedoch, dem sich der sonst so selbstgestrenge von Aschenbach nun willenlos hingibt, macht aus ihm letztlich einen würdelosen Greis.

Erstes Kapitel [Bearbeiten]

Anfang Mai 1911 (im Jahr der zweiten Marokkokrise) unternimmt der über fünfzigjährige, für seine Werke geadelte Schriftsteller Gustav von Aschenbach einen Spaziergang durch den Englischen Garten in München, der ihn bis vor den Nördlichen Friedhof führt. Auf der Freitreppe zur Aussegnungshalle fällt ihm ein seltsamer Mann in Wanderkleidung auf, der ihn so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein anblickt, dass Aschenbach sich abwendet. Im Weitergehen wirkt das Wanderhafte in der Erscheinung des Fremden in Aschenbach nach. Eine seltsame Ausweitung seines Inneren ward ihm ganz überraschend bewusst, eine Art schweifender Unruhe, die er sich als Reiselust deutet. Er überlässt sich der pflichtwidrigen Anfechtung und meint, eine Abwechslung tue ihm gut, etwas Stegreifdasein, Tagedieberei, Fernluft und Zufuhr neuen Blutes: Gustav von Aschenbach beschließt zu verreisen.

Zweites Kapitel [Bearbeiten]

Herkunft, Lebensweg und Charakter Aschenbachs werden beschrieben, dazu seine Werke, ihr literarischer Stellenwert und ihre Publikumswirkung. Aschenbach ist schon lange verwitwet und lebt allein. Sein ganzes Streben ist auf Ruhm ausgerichtet. Keineswegs von robuster Natur, muss er sich künstlerische Leistungen täglich neu abringen. Mit dieser Selbstdisziplin verwirklichen sich Anlagen von väterlicher Seite, überwiegend höheren Beamten im preußischen Schlesien. Der Großvater mütterlicherseits war Musiker. Von dieser Seite kommt sein künstlerisches Talent.

Drittes Kapitel [Bearbeiten]

Aschenbach ist, zuletzt auf dem Seeweg von Triest über Pola, auf einer Insel nahe der istrischen Adriaküste angekommen. Es regnet. Der Strand ist enttäuschend, nicht sanft und sandig, er vermittelt kein ruhevoll inniges Verhältnis zum Meere. Einer plötzlichen Eingebung folgend, reist er per Schiff nach Venedig, das er schon als junger Mann mehrfach besucht hat. Im Schiffsinneren fertigt ihn ein schmieriger Zahlmeister ab und lobt sein Reiseziel in phrasenhaften Wendungen. An Deck beobachtet er einen grell geschminkten Alten, der sich einer Schar junger Männer angeschlossen hat und bemüht ist, diese an Jugendlichkeit zu übertreffen, indem er zuviel raucht und trinkt und durch anzügliche Bemerkungen aufzufallen versucht. In Venedig angekommen, will Aschenbach mit der Gondel zur Vaporetto-Station. Der einsilbige Gondoliere jedoch rudert ihn eigenmächtig über die Lagune zum Lido. Dort angekommen, entfernt sich Aschenbach kurz, um Geld für die Bezahlung der Überfahrt zu wechseln. Als er zurückkommt, ist der Gondoliere verschwunden. Vom Helfer mit dem Bootshaken, der am Landungsplatz postiert ist, erfährt er, dass der Mann der einzige Gondoliere sei, der keine Lizenz habe.

Władysław "Adzio" Moes (links, Mitte) war das Vorbild für Tadzio (Venedig, 1911).

Abends entdeckt von Aschenbach in der Hotelhalle am Tisch einer polnischen Familie einen langhaarigen Knaben von vielleicht vierzehn Jahren, der ihm als vollkommen schön erscheint. Er deutet seine Faszination als ästhetisches Kennertum, eine Kunstauffassung vertretend, die die Sinnlichkeit der Kunst verleugnet. Doch mit jedem Tag, den Aschenbach den jungen Tadzio am Strand beobachtet und bewundert, verfällt der Alternde dem Anblick des Jünglings mehr und mehr.

Das schwüle Wetter, die Mischung aus Seeluft und Scirocco bekommen von Aschenbach nicht. Er erinnert sich, dass er in früheren Jahren schon einmal wegen gesundheitlicher Gründe aus Venedig fliehen musste. Als ihn Schweiß- und Fieberanfälle befallen, bedauert er, auch diesmal die Stadt verlassen zu müssen, und beschließt nach Triest zu reisen. Auf dem Bahnhof stellt sich aber heraus, dass sein Koffer versehentlich nach Como abgeschickt wurde, eine Komplikation, die Aschenbach zum willkommenen Vorwand nimmt, wieder in sein Hotel am Lido zurückzukehren, um dort die Rückkehr seines Gepäcks abzuwarten. In sich hineinblickend erkennt er, dass ihm um Tadzios willen der Abschied so schwer geworden ist. Als sein Koffer zwei Tage später eintrifft, hat er den Gedanken an eine Abreise längst verworfen.

Viertes Kapitel [Bearbeiten]

Der sonst so kühle und nüchterne Aschenbach gibt sich ganz seinen Gefühlen hin. Der Vergleich mit Sokrates, der den jungen Phaidros über die Rolle der Schönheit belehrt, und die antikisierende Sprache der Novelle beschreiben die mythische Verwandlung der Welt in den Augen Aschenbachs. Das Kapitel endet mit seinem Eingeständnis, dass er den Knaben liebe.

Fünftes Kapitel [Bearbeiten]

Eine Cholera-Epidemie, von Indien kommend, hat Venedig erreicht. Mehrere Versuche, sich bei Einheimischen über die Seuche zu informieren, schlagen fehl. Auch der diabolische Anführer einer kleinen Bande von Straßenmusikanten, die im Freien und zu später Stunde vor den Hotelgästen auftritt, gibt Aschenbach keine Auskunft. Anderntags klärt ihn schließlich der Angestellte eines englischen Reisebüros über die Choleragefahr auf. Trotzdem bleibt Aschenbach in der Lagunenstadt. Der von seinem späten Gefühlsrausch Heimgesuchte verwirft den Gedanken, Tadzios Angehörige vor der Cholera zu warnen, um dessen Nähe nicht entbehren zu müssen.[2]

Aschenbach hat nun alle Selbstachtung verloren. Um zu gefallen, lässt er sich vom Coiffeur des Hotels die Haare färben und schminken. Er ist damit auf der Stufe des geckenhaften Alten angekommen, dessen gewollte Jugendlichkeit er mit Widerwillen auf der Herfahrt beobachten musste. Infiziert durch überreife Erdbeeren, die er bei einem Streifzug durch die Gassen Venedigs gekauft hatte, stirbt Aschenbach an der Cholera, während er aus seinem Liegestuhl Tadzio ein letztes Mal am Strand beobachtet. Dabei erscheint es dem Sterbenden, als lächle und winke der Knabe ihm von weitem zu und deute mit der anderen Hand hinaus aufs offene Meer. Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.[3]

Form [Bearbeiten]

Thomas Mann selbst hat den Tod in Venedig in seinem «Lebensabriss» die Tragödie einer Entwürdigung genannt und dabei den Begriff Tragödie durchaus wörtlich gemeint, denn seine Novelle weist gleich mehrere klassizistische Merkmale auf:

die Unterteilung in fünf Kapitel analog den fünf Akten des klassischen Dramas, einschließlich der

horazischen Fünfgliedrigkeit in Exposition, Komplikation, Peripetie, Retardation und Katastrophe;

die mythologische Tiefenperspektive der Handlung;

die mehrfachen Rekurse auf Platons Dialog Phaidros;

die den Chor der griechischen Tragödie parodierenden Straßenmusikanten, die zugleich an

Ursprung der Theaters im Kult des Dionysos erinnern, und

den zeitweilig (Viertes Kapitel) antikisierenden Sprachrhythmus.

Künstlerproblematik [Bearbeiten]

Thomas Mann beschreibt das Scheitern eines asketischen, ausschließlich auf Leistung ausgerichteten Lebens, das ohne zwischenmenschlichen Halt auskommen muss. Einsam,[4] ausgeschlossen vom Glück sorgloser Leichtlebigkeit, hart arbeitend, erreicht Gustav von Aschenbach mit seinem schriftstellerischen Werk Ruhm und Größe. Stolz auf seine Leistungen, ist er aber voller Misstrauen in seine Menschlichkeit und ohne Glauben, dass man ihn lieben könne.[5]

Da tritt ein Knabe in sein Leben, dessen hermaphroditische Anmut für Aschenbach zur Inkarnation vollkommener Schönheit wird. Seine Faszination und Leidenschaft für dieses Idealbild rechtfertigt er mit philosophischen Argumenten, indem er in seinen Tagträumen wiederholt den platonischen Dialog zwischen Sokrates und Phaidros heranzieht und für seine Zwecke modifiziert und ästhetisch reflektiert: Die Schönheit sei „die einzige Form des Geistigen, welche wir sinnlich empfangen, sinnlich ertragen können.“ Nur sie sei „göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg“ und daher „der Weg des Künstlers zum Geiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum Geistigen durch die Sinne führt?“

Wie sein selbstkritischer Autor Thomas Mann sieht auch Aschenbach die Scharlatanerie alles Künstlerischen: „Siehst du nun wohl, daß wir Dichter nicht weise noch würdig sein können? Daß wir notwendig in die Irre gehen, notwendig liederlich und Abenteurer des Gefühls bleiben? Die Meisterhaltung unseres Stiles ist Lüge und Narrentum, unser Ruhm und Ehrenstand eine Posse, das Vertrauen der Menschen zu uns lächerlich“.

Und wie der Autor, so sieht auch sein Protagonist die fragwürdigen Seite des Künstlers, der den Tod in Venedig nicht zufällig findet, sondern wissentlich sucht: „fortan gilt unser Trachten einzig der Schönheit, das will sagen der Einfachheit, Größe und neuen Strenge, der zweiten Unbefangenheit und der Form. Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde,[6] führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne Strenge als infam verwirft, führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen.“

Todesmotive [Bearbeiten]

Ein zentrales Motiv der Novelle ist der Todesbote, der in wechselnder Gestalt auftritt:

Erstmalig in der des Fremden vor der Friedhofshalle. In dem Blickduell, das er mit Aschenbach führt, unterliegt dieser und sieht, ohne es schon zu wissen, dem Tod in die Augen. Sich selbst täuschend, deutet er die so ausgelöste Unruhe und seltsame Ausweitung seines Inneren als Reiselust.

Der gespenstisch wirkende Zahlmeister während der Schiffsreise nach Venedig erinnert an den Totenschiffer Charon, der in der Vorstellung der griechischen Antike die Verstorbenen in den Hades übersetzte und dafür als Fährmannslohn einen Obolus erhielt.

Todesboten sind auch der Gondoliere, der Aschenbach über die Lagune rudert, und der freche Sänger und Anführer eines Trupps von Straßenmusikanten. Gemeinsam mit dem Reisenden vor der Aussegnungshalle ist allen dreien, dass sie als Fremde, rothaarig, bartlos[7], schmächtig, mit vorspringendem Adamsapfel, bleich und stumpfnäsig beschrieben werden. Ihr Fremdsein wird immer mehr, besonders dann in der Gestalt des Gitarristen und Sängers, zu einem Merkmal des Dionysischen. Der mythologischen Forschung am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts galt Dionysos noch als eine ursprünglich dem Griechentum fremde Gottheit, die aus Kleinasien nach Griechenland gekommen war.

Das Motiv des Todesboten gipfelt in der Figur des anmutigen Tadzio. Im Schlussbild der Novelle meint der Sterbende, Tadzio lächle ihm zu und deute vom Meeresufer aus mit der Hand ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Diese Geste macht aus Tadzio eine Hermes-Inkarnation, denn zu den Aufgaben jener Gottheit gehörte es, die Seelen der Verstorbenen in die Totenwelt zu führen.

Weitere Todessymbole:

Erstes Kapitel:

Der Name des tragischen Helden. Die Wortverbindung assoziiert beim Leser unterschwellig ´Asche in einen Bach´ als eine Art Bestattung. (S. 9 Z.1)

Der Friedhofseingang. (S. 10 Z.13)

Die Ausstellungsstücke des Steinmetz-Betriebes, die ein unbehaustes Gräberfeld imitieren.

Abendstimmung. (S. 10 Z. 21)

Die Schriftworte über dem Eingang der Aussegnungshalle, Sie gehen ein in die Wohnung Gottes oder Das ewige Licht leuchte ihnen. (S.11 Z. 3)

Adjektive, wie z.B. die apokalyptischen Tiere (S. 11 Z. 10)

Die Physiognomie des Reisenden vor der Aussegnungshalle, deren Beschreibung an einen Totenschädel denken lässt.

Drittes Kapitel:

Die venezianische Gondel, von der Schwärze eines Sarges, die ihren Passagier wohlig erschlaffen lässt.

Das Meer mit seiner Wirkung des Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, des Nichts. In Thomas Manns Metaphorik ist das Meer ein Todessymbol: Denn Liebe zum Meer ist nichts anderes als Liebe zum Tode schreibt er 1922 in seinem Essay Von Deutscher Republik. Von Aschenbach sieht Tadzio täglich bei seinen Spielen am Strand zu, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner Erscheinung Folie und Hintergrund.

Fünftes Kapitel:

Der Granatapfel-Saft, den Aschenbach nach der Vorstellung der Straßenmusikanten zu Ende trinkt. Das Getränk spielt auf den Persephone-Mythos an: Wer vom Granatapfel des Hades gekostet hat, kann nicht mehr zur Oberwelt zurückkehren, ganz gleich, ob er Sterblicher oder Gottheit ist. Die Todessymbolik bekräftigt Thomas Mann mit dem inneren Bild einer Sanduhr, das er in dieser Situation bei von Aschenbach entstehen lässt.

Mythologische Motive [Bearbeiten]

Von Aschenbach gibt sich ganz der Bewunderung des Knaben hin. Das war der Rausch; und gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen. Nach Art der Dialoge Platons imaginiert der Enthusiasmierte Gespräche mit dem Bewunderten. In ihnen bricht er mit seiner apollinischen, zuchtvollen Lebenssicht. […], denn der Leidenschaft ist, wie dem Verbrechen, die gesicherte Ordnung und Wohlfahrt des Alltags nicht gemäß. Er erkennt die Sinnlichkeit der Kunst und monologisiert: […] du musst wissen, dass wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne dass Eros sich zugesellt und sich zum Führer aufwirft. Doch damit beschönigt von Aschenbach. Nicht Eros leitet ihn. Dionysos ist es, dem er verfallen ist. Von ihm seines apollinisch-klaren Weltbildes beraubt, meint von Aschenbach, dem Künstler sei eine unverbesserliche und natürliche Richtung zum Abgrunde eingeboren.

Einen wilden Höhepunkt findet von Aschenbachs Entartung in dem Traum des fünften Kapitels. Er gerät unter die zügellos Feiernden eines antiken Dionysos-Kultes. Aber mit ihnen, in ihnen war der Träumende nun dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die [Opfer-]Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unterganges.

Weitere mythologische Anspielungen:

Der Fremde vor dem Eingang der Aussegnungshalle, erhöht auf der Freitreppe stehend, ist mehr als eine Randfigur. Er ist zugleich Allegorie. So tritt er auch auf: Es bleibt offen, woher er gerade hergekommen ist, und ebenso spurlos ist er wieder verschwunden. Mythologisch lässt er sich sowohl als Thanatos wie auch als Dionysos [Motiv des Weitgereisten und Fremdseins] verstehen. Seine Haltung mit den gekreuzten Füßen schließlich erinnert außerdem an eine typische Pose antiker Hermes-Skulpturen.

Der Gondoliere rudert von Aschenbach nicht zur Vaporetto-Station, sondern gegen dessen Willen über die Lagune zum Lido. Nachdem zuvor die Gondel mit einem Sarg verglichen worden ist, entsteht beim Leser eine Charon-Assoziation. Die letzte Überfahrt ist ebenfalls ohne Umkehr und der Fährmann bestimmt das Ziel.

Das vierte Kapitel setzt ein mit mythologischen Bildern der griechischen Antike, in einer hymnischen Sprache und einem Silbenrhythmus, aus dem sich der eine und andere Hexameter herauslesen lässt. Überschreiben ließe es sich mit „mythische Verklärung der Welt“.

Tadzio ist „das Werkzeug einer höhnischen Gottheit“, des rauschhaften und zügellosen Gottes Dionysos. Er ist zugleich aber auch Hermes Psychopompos, der Aschenbach letztendlich in den Tod bzw. das Meer geleitet.

Décadence-Motive [Bearbeiten]

Literaturgeschichtlich ist «Der Tod in Venedig», entstanden am Vorabend des Ersten Weltkrieges, zugleich Höhe- und Endpunkt der Décadence-Literatur des zu Ende gegangenen 19. Jahrhunderts. Der Zauberberg (1924) zählt nicht mehr dazu. Er bildet den Übergang zur zweiten Hälfte seines Lebenswerkes.[8] In dem Sanatoriumsroman verabschiedet sich Thomas Mann von der Sympathie mit dem Tode.[9]

Venedig selbst ist mit seinem leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf eines der zentralen Dekadenzsymbole in der Literatur der damaligen Zeit. Venedig ist auch die Stadt, wo der von Mann verehrte Richard Wagner seine musikalischen Inspirationen für Tristan und Isolde fand - und wo Wagner starb, ein Tod in Venedig.[10]

Das Klima Venedigs bekommt Aschenbach nicht. Während des Versuches einer Abreise (drittes Kapitel) erkennt er die Stadt als einen ihm unmöglichen und verbotenen Aufenthalt, dem er nicht gewachsen war. Aschenbachs Ohnmacht mündet schließlich im Todeswunsch. Von dem Angestellten eines englischen Reisebüros wusste er, dass die indische Cholera in der Stadt grassiert, dass kürzlich eine Grünwarenhändlerin an der Seuche gestorben war, wahrscheinlich waren Nahrungsmittel infiziert worden, Gemüse, Fleisch oder Milch. Deutsche Tagesblätter hatten zudem über die Heimsuchung der Lagunenstadt berichtet. Trotzdem kauft er in der kranken Stadt vor einem kleinen Gemüseladen einige Früchte, Erdbeeren, überreife und weiche Ware und aß im Gehen davon. [11]

Aschenbach hatte schon als Kind eine schwächliche Konstitution und war auf ärztlichen Rat vom Schulbesuch ausgeschlossen worden. Hauslehrer mussten ihn unterrichten. Seine Leistungen als Schriftsteller muss er sich mit äußerster Willensanspannung abringen, ständig am Rande der Erschöpfung. Seinen Heroismus, sein Ethos findet Aschenbach in der täglichen Überwindung von Schwäche. - Da es sich bei seiner Liebe zu Tadzio um eine Reaktion des bisher Verdrängten handelt, entsteht daraus Perversion. „Paradoxerweise produziert so das Ästhetentum das Unästhetische, der falsche Kult des Schönen das Häßliche und Entstellte. Die 'Zucht' führt zur Unzucht. Dies ist der Weg des einstmals 'vorbildlichen' und sogar zur Ehre der Schulbücher gelangten Schriftstellers Aschenbach - die Tragödie des unschöpferischen Menschen der Décadence.“[12]

Tadzios blasser Teint mutet kränklich an. Später fallen Aschenbach Tadzios ungesunde Zähne auf - bei Thomas Mann immer ein Zeichen für Dekadenz und Verfall. Aschenbach glaubt nicht, dass der Knabe einmal alt werden wird und empfindet bei dieser Feststellung ein Gefühl der Beruhigung oder Genugtuung.

Der alternde Künstler Aschenbach hat die kritische Schwelle erreicht, „wo die Kraft des Verdrängens und Disziplinierens erlischt. Diese Alterskrise ist mehr als individuell. Sie repräsentiert die Alterskrise der steril gewordenen bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, die aus dem Stadium der durch bürgerliche 'Moral' krampfhaft verdeckten Décadence in die offene übergeht.“[13]


Inhalt [Bearbeiten]

Erstes Kapitel [Bearbeiten]

Tonio ist der Sohn des Getreidegroßhändlers Konsul Kröger und dessen schöner, südländischer Frau. Von ihr hat er die dunklen Augen und das südlich scharf geschnittene Gesicht. Von ihrem Bruder, seinem Onkel Antonio, stammt der landesfremde Vorname. Tonio Kröger lebt in einer alten, giebeligen Stadt an der Ostsee.

Den Vierzehnjährigen beeindruckt der blonde, blauäugige Hans Hansen, ein frischer, einfacher und auffallend hübscher Junge. Ihn liebt Tonio, und um seine Freundschaft und Zuneigung wirbt er. Dabei ist Hans Hansen in jeder Hinsicht das Gegenteil Tonio Krögers, nicht nur im Erscheinungsbild, auch in der Wesensart - ein Bastler und Sportler, der „Pferdebücher“ liebt. Tonio dagegen spielt Geige, führt ein Heft mit selbst geschriebenen Versen, ist ergriffen von einer Episode in Schillers Don Karlos[3] und liegt in seiner Freizeit einsam am Strand und betrachtet die geheimnisvoll wechselnde Oberfläche des Meeres. Im Schulunterricht schweifen seine Gedanken ab, die persönlichen Schwächen der Lehrer durchschaut er und ihre schlechten Manieren stoßen ihn ab. Nach Hause bringt er die „erbärmlichsten Zensuren“. Unter den anderen Schülern fühlt sich Tonio fremd, die Lehrer lehnen ihn insgeheim ab. Hans Hansen jedoch achtet an Tonio eine gewisse Überlegenheit, die Fähigkeit, schwierige Dinge in Worte zu fassen.

Tonio beneidet Hans Hansen ein wenig wegen dessen Unkompliziertheit, die ihm soviel Sympathie bei anderen einträgt. Sein Freundschaftswerben wird von Hans Hansen zwar geduldet, doch mehr erreicht Tonio bei ihm nicht. Beide bleiben einander letztlich fremd, und Tonio leidet.

Zweites Kapitel [Bearbeiten]

Als Tanzlehrer kommt eigens der Ballettmeister François Knaak von Hamburg in Tonio Krögers enge Vaterstadt. Die Tanzstunde findet reihum in Privathäusern statt, ausschließlich für die Angehörigen der ersten Familien. Auch Tonio Kröger nimmt daran teil. Ihn verblüfft, wie sich dieser affektierte, selbstverliebte François Knaak, „dem sich der seidig schwarze Gehrock so wunderbar um die fetten Hüften schmiegt“, Wirkung verschafft. Bei seinen Unterweisungen spricht er mit Vorliebe Französisch „und keine Worte schildern, wie wunderbar er dabei den Nasallaut hervorbrachte“.

Der sechzehnjährige Tonio hat sich in die blonde, blauäugige Inge Holm verliebt. In der Tanzstunde wagt er aber nicht, sie anzusprechen, und die heitere, unbekümmerte Inge übersieht ihn.

Ihm wesensverwandt ist Magdalena Vermehren, die in der Tanzstunde oft hinfällt. Aus ihren großen, dunklen Augen blickt sie von weitem und mit gesenktem Kopf zu Tonio hinüber. Sie interessiert sich für seine Verse und hat ihn schon zweimal gebeten, sie ihr zu zeigen. Bei der Damenwahl geht sie auf ihn zu.

„Aber was sollte ihm das? Er, er liebte Inge Holm, die blonde, lustige Inge, die ihn sicher darum verachtete, dass er poetische Sachen schrieb.“ Und in Tonios Liebe mischte sich „eine neidische Sehnsucht, ein herber, drängender Schmerz, von ihr ausgeschlossen und ihr ewig fremd zu sein.“

Drittes Kapitel [Bearbeiten]

Der Vater stirbt, die Mutter heiratet einen Virtuosen mit italienischem Namen, dem sie in die Fremde folgt. Tonio verlässt seine Heimatstadt und zieht nach München, wo sich sein Verstand weiter schärft und er die Welt zu durchschauen und ihre Trivialität zu verspotten beginnt: „Was er aber sah, war dies: Komik und Elend – Komik und Elend.“

„Aber da sein Herz tot und ohne Liebe war, so geriet er in Abenteuer des Fleisches, stieg tief hinab in Wollust und heiße Schuld und litt unsäglich dabei. […] So kam es nun dahin, dass er, haltlos zwischen krassen Extremen, zwischen eisiger Geistigkeit und verzehrender Sinnenglut hin und her geworfen, unter Gewissensnöten ein erschöpfendes Leben führte, das er, Tonio Kröger, im Grunde verabscheute.“

In dieser Zeit reift seine Künstlerschaft, erste ungewöhnliche Werke entstehen und sein Name wird in der literarischen Öffentlichkeit zu einer Formel, die Vortrefflichkeit bezeichnet. Als Schaffender kann er sich von nun an akzeptieren, als Menschen jedoch achtet er sich für nichts. Das Kapitel schließt mit der Feststellung Tonio Krögers, „dass man gestorben sein muss, um ganz ein Schaffender zu sein.“

Viertes Kapitel [Bearbeiten]

„Aber was ist der Künstler?“ Tonio Kröger, inzwischen über Dreißig und berühmt, hat die befreundete Malerin Lisaweta Iwanowna in ihrem Atelier besucht und müht sich im Gespräch mit ihr, diese Frage zu beantworten. Es geht ihm um Selbstfindung.

Der Künstler Tonio Kröger weiß, dass Gefühl allein für künstlerische Gestaltung nicht reicht. Nur das kalkulierte, in „kalten Ekstasen“ erarbeitete Kunstwerk vermag beim Betrachter Emotionen auszulösen. „Jeder echte und aufrichtige Künstler lächelt über die Naivität“, man könne sich in der künstlerischen Produktion von seinen Emotionen leiten lassen und nicht von kalter Berechnung auf Wirkung. Kälte und Einsamkeit sonderten den Künstler von der Menschheit ab, der vollkommene Künstler sei ein verarmter Mensch. Er stelle das Menschliche dar, ohne am Menschlichen teilzuhaben. Das Leben in seiner verführerischen Banalität stehe „als ewiger Gegensatz“ dem Geiste und der Kunst gegenüber.[4]

Und doch – er gesteht es Lisaweta Iwanowna – liebt Tonio Kröger das Leben! Er bekennt, dass er sich zum Harmlosen, Einfachen und Lebendigen hingezogen fühlt, bekennt eine „verstohlene und zehrende Sehnsucht nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit.“

Fünftes Kapitel [Bearbeiten]

Tonio Kröger verabschiedet sich von Lisaweta Iwanowna. Er wolle verreisen, sich einmal auslüften. Es ziehe ihn in nördliche Sphären, nach Dänemark. Er lebt zu dieser Zeit in München. Nach Seeluft sei ihm und skandinavischer Küche, die ja seiner heimatlichen ganz ähnlich sei. Auch die Namen hätten den gleichen Klang wie zu Hause. Zum Beispiel „einen Laut wie ‚Ingeborg‘, ein Harfenschlag makelloser Poesie“. Und die tiefen, reinen und humoristischen Bücher, die dort geschrieben wurden, wolle er in ihrem Ursprungsland lesen.

Lisaweta Iwanowna durchschaut ihn. Auf ihre Frage gibt er zu, dass auch seine Heimatstadt auf seiner Reiseroute liege. „Ja, ich berühre meine – meinen Ausgangspunkt, Lisaweta, nach dreizehn Jahren, und das kann ziemlich komisch werden“.

Sechstes Kapitel [Bearbeiten]

Er ist in seiner Vaterstadt mit den schmalen Giebeln und spitzen Türmen angekommen.[5] Würde ihn jemand erkennen? Nein, es kannte ihn keiner mehr. Der Stadtrundgang führt ihn an Inge Holms Haus vorbei. Am Lindenplatz bleibt er sinnend vor der hübschen Villa stehen, in der Hans Hansen zu Hause war. Als er sein ehemaliges Vaterhaus betritt, stellt er mit Verwunderung fest, dass eine Volksbibliothek hier eingerichtet worden ist. „Volksbibliothek? dachte Tonio Kröger, denn er fand, dass hier weder das Volk noch die Literatur etwas zu suchen hatten.“

An der Hotelrezeption hat Tonio Krögers reserviertes Benehmen Neugier erregt. Als er abreisen will, kommt es zu einem kuriosen Zwischenfall. Er muss einem Polizisten Rede und Antwort stehen. Man hält ihn für einen gesuchten Hochstapler und Betrüger, der auf der Flucht von München nach Kopenhagen ist. Tonio führt keinen Pass mit sich! In seiner Brieftasche liegen nur einige Geldscheine und der Korrekturabzug einer Novelle, die gerade im Druck ist. „Sehen Sie!“ sagte er. „Da steht mein Name. Ich habe dies geschrieben, und nun wird es veröffentlicht, verstehen Sie.“ Und tatsächlich wird diese Art der Legitimation akzeptiert, Tonio Kröger kann weiter reisen.

Siebtes Kapitel [Bearbeiten]

Tonio Kröger reist zu Schiff nach Kopenhagen.

„Die Ostsee!“ Er erlebt das Meer seiner Kindheit. Die Nacht verbringt er an Deck. Anfangs sieht er noch auf die stark bewegte See. Dann fällt er in Schlummer. „Und wenn der kalte Schaum in sein Gesicht spritze, so war es ihm im Halbschlaf wie eine Liebkosung.“

In Kopenhagen erfasst ihn eine merkwürdige Stimmung: „Und allerwegen, indes er in verlangsamten, nachdenklichen Zügen die feuchte Seeluft atmete, sah er Augen, die so blau, Haare, so blond, Gesichter, die von eben der Art und Bildung waren, wie er sie in den seltsam wehen Träumen der Nacht geschaut, die er in seiner Vaterstadt verbracht hatte.“ Er reist weiter, sich seiner Intuition überlassend und gelangt ans Meer. In Aalsgaard mietet er sich in einem kleinen Badehotel ein.

Achtes Kapitel [Bearbeiten]

Das stille Hotelleben wird unterbrochen, als eines Tages eine Schar von Ausflüglern eintrifft, unter ihnen ist ein junges blondes Paar, das in Tonio Kröger wehmütige Erinnerungen an Hans Hansen und Ingeborg Holm wachruft. Am Abend wiederholen sich Tonio Krögers einstige Tanzstundenerlebnisse unter veränderten Vorzeichen: Für die Ausflügler wird ein Ball veranstaltet, den ein eitler Festordner kommandiert, „er kommandierte, bei Gott, auf französisch, und brachte die Nasallaute auf unvergleichlich distinguierte Art hervor“. Tonio Kröger steht auf der nächtlichen Terrasse und beobachtet die, „die im Lichte tanzten“. „Und plötzlich erschütterte das Heimweh seine Brust mit einem solchen Schmerz, dass er unwillkürlich weiter ins Dunkel zurückwich, damit niemand das Zucken seines Gesichtes sähe“.

Hätte er doch so sein können wie Hans Hansen, denkt Tonio Kröger, „frei vom Fluch der Erkenntnis und der schöpferischen Qual leben, lieben und loben in seliger Gewöhnlichkeit! Noch einmal anfangen? Aber es hülfe nichts. Er würde wieder so werden, – alles würde wieder so kommen, wie es gekommen ist. Denn etliche gehen mit Notwendigkeit in die Irre, weil es einen rechten Weg für sie überhaupt nicht gibt.“ - „Ja, es war wie damals, und er war glücklich wie damals. Denn sein Herz lebte. Was aber war gewesen während all der Zeit, in der er das geworden, was er nun war? – Erstarrung; Öde; Eis; und Geist! Und Kunst!“

Neuntes Kapitel [Bearbeiten]

Das Schlusskapitel besteht aus einem Brief an Lisaweta Iwanowna, in dem Tonio Kröger ihr das Ergebnis seiner Innenschau und Selbstfindung mitteilt: „Ich stehe zwischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolgedessen ein wenig schwer. Ihr Künstler nennt mich einen Bürger, und die Bürger sind versucht, mich zu verhaften ... ich weiß nicht, was von beiden mich bitterer kränkt. Die Bürger sind dumm; ihr Anbeter der Schönheit aber, die ihr mich phlegmatisch und ohne Sehnsucht heißt, solltet bedenken, dass es ein Künstlertum gibt, so tief, so von Anbeginn und Schicksals wegen, dass keine Sehnsucht ihm süßer und empfindenswerter erscheint als die Wonnen der Gewöhnlichkeit“.

Er ahnt eine große Laufbahn als Künstler, ahnt noch größeren Ruhm. „Was ich getan habe, ist nichts, nicht viel, so gut wie nichts. Ich werde Besseres machen, Lisaweta, – dies ist ein Versprechen“. Wenn er die Augen schließe, sehe er ein Gewimmel von Schatten menschlicher Gestalten, die ihm winkten, dass er sie in sein Werk aufnehme, „sie banne und erlöse“. Ihnen sei er sehr zugetan. Aber – seine tiefste und verstohlenste Liebe gehöre den Blonden und Blauäugigen, den hellen Lebendigen, den Glücklichen, Liebenswürdigen und Gewöhnlichen. „Schelten Sie diese Liebe nicht, Lisaweta; sie ist gut und fruchtbar. Sehnsucht ist darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.“

Figuren [Bearbeiten]

Tonio Kröger [Bearbeiten]

Tonio Kröger hat sich als Dichter in der literarischen Welt einen Namen gemacht. Künstlerisch hoch begabt und fähig, „in Gelassenheit etwas Ganzes zu schmieden“, ist er jedoch im Umgang mit anderen gehemmt. Dass ihm eine natürliche Unbefangenheit fehlt, erkennt er, wenn er sich mit denen vergleicht, „die den Geist nicht nötig haben“, die unkomplizierten, blauäugigen Blonden von ansprechendem Äußeren. Sie verkörpern für ihn eine solide und sympathische Mittelmäßigkeit. Zu ihnen fühlt sich der südländisch fremd wirkende Tonio Kröger hingezogen und bleibt doch allein.

Das Bewusstsein, ein Fremder und bloßer Zaungast zu sein, der sich vergebens um Freundschaft bemüht, ist es auch, was ihn am Don Carlos so berührt, dessen Lektüre er Hans Hansen erfolglos schmackhaft zu machen versucht: „Da ist zum Beispiel die Stelle, wo der König geweint hat, weil er von dem Marquis betrogen ist [...] Aber man begreift es so gut, daß er geweint hat, und mir tut er eigentlich mehr leid als der Prinz und der Marquis zusammengenommen. Er ist immer so ganz allein und ohne Liebe, und nun glaubt er einen Menschen gefunden zu haben, und der verrät ihn ...“.

Für Thomas Mann und seinen Helden ist die Welt zweigeteilt in Geist und Natur, und das unüberbrückbar. Für den Geist steht in der Novelle die Literatur. Bürgerlichkeit meint Natur, Leben und Unbefangenheit, auch erotische Unbefangenheit. Tonio Kröger, ein Intellektueller, wird zum unfreiwilligen Außenseiter, da er mehr erkennt und durchschaut als andere.

Hans Hansen und Ingeborg Holm [Bearbeiten]

Als sie Tonio Kröger im Strandhotel wieder erscheinen, sind es nicht die beiden, „um die er vorzeiten Liebe gelitten hatte“, sondern Fremde, die Tonio Krögers Liebes-Ideal entsprechen. Der Text macht es später deutlich. „[…] Hans und Ingeborg. Sie waren es nicht so sehr vermöge einzelner Merkmale und der Ähnlichkeit der Kleidung, als Kraft der Gleichheit der Rasse und des Typus, dieser lichten, stahlblauäugigen und blondhaarigen Art, […]“. Sie sind Doppelgänger, wie auch der Festordner und eine junge Frau, die beim Tanzen hinfällt.

Die Begriffe „Rasse“ und „Typus“ spielen auf Nietzsches „Blonde Bestie“ an, bei dem sie für „die Antriebe zum Leben“ und für „alles, was noch stark und glücklich war“ stehen. „Die ‚Blonde Bestie‘ spukt auch in meiner Jugenddichtung, aber sie ist ihres bestialischen Charakters so ziemlich entkleidet, und übriggeblieben ist nichts als die Blondheit zusammen mit der Geistlosigkeit.“[6]

Über seinen früh verstorbenen Mitschüler Armin Martens – das Vorbild für Hans Hansen – schreibt Thomas Mann in seinem Kondolenzbrief an dessen Schwester Ilse am 7. April 1906: „Du weißt, was er meiner ersten, frischesten, zartesten Empfindung gewesen ist“. Und am 19. März 1955, fünf Monate vor seinem Tod, antwortet Thomas Mann einem ehemaligen Klassenkameraden: „Ganz unbetont (wohl absichtlich) läuft in Deiner Aufzählung der Name Armin Martens mit unter, und doch hätte er eine rote Unterstreichung verdient. Denn den habe ich geliebt – er war tatsächlich meine erste Liebe, und eine zartere, selig-schmerzlichere war mir nie mehr beschieden. So etwas vergisst sich nicht, und gingen 70 inhaltsvolle Jahre darüber hin. Mag es lächerlich klingen, aber ich bewahre das Gedenken an diese Passion der Unschuld wie einen Schatz“. Schon in der Pubertät habe Armin Martens’ Charme erheblichen Schaden gelitten. „Aber ich habe ihm im „Tonio Kröger“ ein Denkmal gesetzt. […] Merkwürdig zu denken auch, dass die ganze Bestimmung dieses Menschenkindes darin bestand, ein Gefühl zu erwecken, das eines Tages zum bleibenden Gedicht werden sollte“.

Lisaweta Iwanowna [Bearbeiten]

Mit der Malerin Lisaweta Iwanowna ist Tonio Kröger befreundet. Ihr klagt er seinen Mangel an Lebensbegabung. Sie ist etwa gleichaltrig mit Tonio Kröger, ein wenig jenseits der Dreißig und mit schon leicht ergrautem Haar, das ein slawisch geformtes, „unendlich sympathisches Gesicht“ umrahmt.

Am Ende des vierten Kapitels, quasi als die Quintessenz auf seinen Monolog – Tonio Kröger lässt sie in dem Ateliergespräch kaum zu Wort kommen – nennt ihn Lisaweta Iwanowna einen Bürger auf Irrwegen, einen „verirrten Bürger“. Diese Formel führt ihm sein eigentliches Naturell vor Augen und seine unterdrückte Selbstakzeptanz. Nach einigen Sekunden Stillschweigen greift Tonio Kröger nach Stock und Hut, verabschiedet sich und geht. Dass ihn Lisaweta Iwanowna durchschaut hat, kommentiert Tonio Kröger mit den Worten: „Ich bin erledigt.“ Erledigt durch das treffende Wort.


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Äàòà äîáàâëåíèÿ: 2015-08-05; ïðîñìîòðîâ: 152; Ìû ïîìîæåì â íàïèñàíèè âàøåé ðàáîòû!; Íàðóøåíèå àâòîðñêèõ ïðàâ





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