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Ich schenkte ihr noch ein Glas ein. Sie kippte es herunter und verließ lobpreisend die Werkstatt.
1 Ich packte die Flasche weg und setzte mich an den Tisch. Die blasse Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hände. Merkwürdiges Gefühl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte (даже если не придаешь значения этому): Dreißig Jahre – es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu können, so weit weg erschien mir das (так далеко еще мне представлялось это /время/: erscheinen). Und dann – 2 Ich zog einen Briefbogen (лист бумаги) aus dem Fach (из ящика: das Fach) und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule, – das war ein Komplex, fern, irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dünn, hochgeschossen (долговязый), achtzehn Jahre alt, und übte nach dem Kommando eines schnauzbärtigen (усатого; der Schnauzbart – большие усы; die Schnauze – морда) Unteroffiziers auf den Sturzäckern (der Sturzacker – поле, вспаханное после пара; залежь; der Acker – поле, пашня) hinter der Kaserne Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie musste über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Tornister (ранец) nicht vorschriftsmäßig (не как положено; die Vorschrift – предписание; vorschriftsmäßig – согласно предписанию) gepackt gehabt und musste deshalb in der freien Zeit zur Strafe die Latrinen scheuern (чистить уборные: die Latrine). Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so müde, dass ich einschlief, als sie noch bei mir saß. 3 1917. Flandern, Middendorf und ich hatten in der Kantine (в погребке /при казарме/) eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Frühmorgens fing das schwere Feuer der Engländer an. Köster wurde mittags verwundet (ранен; die Wunde – рана), Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends, als wir schon glaubten, Ruhe zu haben, und die Flasche aufmachten, kam Gas und quoll (потек, заструился: quellen) in die Unterstände (в блиндажи: der Unterstand). Wir hatten zwar rechtzeitig (вовремя) die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spät. Bis sie abgerissen (сорвана: abreißen) und eine neue gefunden war, hatte er schon zu viel Gas geschluckt (наглотался: schlucken) und brach bereits Blut (и его уже рвало кровью: das Blut). Er starb am nächsten Morgen, grün und schwarz im Gesicht. Sein Hals war ganz zerrissen (истерзана: zerreißen – разорвать) – so hatte er mit den Nägeln (ногтями: der Nagel) versucht, ihn aufzukratzen (расцарапать, разодрать; kratzen – царапать), um Luft zu kriegen. 4 1918. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen (новая партия раненых). Papierverbände (повязки из бумажных бинтов: der Verband – повязка, бинт). Schwere Verletzungen (повреждения = ранения). Den ganzen Tag fuhren die flachen Operationswagen (плоские операционные тележки) herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wusste es noch nicht. Es war nicht zu sehen, weil die Decke (одеяло) über einem Drahtkorb lag (над проволочным каркасом: die Draht – проволока + der Korb – корзина). Er hätte es auch nicht geglaubt, denn er spürte (чувствовал) Schmerzen in den Füßen. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. Einer sehr langsam und schwer. 5 1919. Wieder zu Hause. Revolution. Hunger. Draußen immerfort (постоянно, беспрерывно) Maschinengewehrgeknatter (треск пулеметов; das Gewehr – винтовка, ружье; knattern – тарахтеть /о моторе/, трещать, строчить /о пулемете/; das Geknatter). Soldaten gegen Soldaten. Kameraden gegen Kameraden. 6 1920. Putsch. Karl Bröger erschossen (расстрелян, застрелен: erschießen). Köster und Lenz verhaftet (арестованы; die Haft – арест, лишение свободы). Meine Mutter im Krankenhaus. Krebs (рак: der Krebs) im letzten Stadium. 7 1921 – Ich dachte nach. Ich wusste es nicht mehr. Das Jahr fehlte einfach. 1922 war ich Bahnarbeiter in Thüringen gewesen, 1923 Reklamechef einer Gummifabrik (фабрики резиновых изделий; der Gummi – резина, каучук). Das war in der Inflation. Zweihundert Billionen (миллиардов) Mark hatte ich monatlich verdient. Zweimal am Tage gab es Geld und hinterher jedesmal eine halbe Stunde Urlaub, damit man in die Läden rasen (помчаться) und etwas kaufen konnte, bevor der nächste Dollarkurs 'rauskam – dann war das Geld nur noch die Hälfte wert. Und dann? Die Jahre darauf (вслед за этим)? Ich legte den Bleistift hin (положил, отложил: hinlegen). Hatte keinen Zweck (не имело смысла; der Zweck – цель), das alles nachzurechnen. Ich wusste es auch nicht mehr so genau. War zu sehr durcheinandergegangen (слишком спуталось; durcheinander – в беспорядке, как попало). Meinen letzten Geburtstag hatte ich im Café International gefeiert. Da war ich ein Jahr lang Stimmungspianist (тапер; Stimmung – настроение, настрой) gewesen. Dann hatte ich Köster und Lenz wiedergetroffen. Und jetzt saß ich hier in der Aurewe: Auto-Reparatur-Werkstatt Köster und Co. Der Co. waren Lenz und ich, aber die Werkstatt gehörte eigentlich Köster allein. Er war früher unser Schulkamerad und unser Kompanieführer (ротный командир) gewesen; dann Flugzeugführer, später eine Zeitlang (некоторое время) Student, dann Rennfahrer (гонщик) – und schließlich hatte er die Bude (лавочку) hier gekauft. Erst war Lenz, der sich einige Jahre in Südamerika herumgetrieben hatte (шатался, шлялся: sich herumtreiben), dazugekommen – dann ich. 8 Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war kräftig (силен; die Kraft – сила), ich wurde nicht leicht müde, ich war heil (здоров, невредим, в добром здравии), wie man das so nennt (как говорится) – aber es war doch besser, nicht allzu viel darüber nachzudenken. Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Da kam ab und zu (время от времени) noch einmal etwas von früher und starrte einen aus toten Augen an (и неподвижно смотрело на тебя мертвыми глазами). Aber dafür hatte man den Schnaps.
1 Ich packte die Flasche weg und setzte mich an den Tisch. Die blasse Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hände. Merkwürdiges Gefühl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte: Dreißig Jahre – es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu können, so weit weg erschien mir das. Und dann – Ich zog einen Briefbogen aus dem Fach und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule, – das war ein Komplex, fern, irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dünn, hochgeschossen, achtzehn Jahre alt, und übte nach dem Kommando eines schnauzbärtigen Unteroffiziers auf den Sturzäckern hinter der Kaserne Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie musste über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmäßig gepackt gehabt und musste deshalb in der freien Zeit zur Strafe die Latrinen scheuern. Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so müde, dass ich einschlief, als sie noch bei mir saß. Flandern, Middendorf und ich hatten in der Kantine eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Frühmorgens fing das schwere Feuer der Engländer an. Köster wurde mittags verwundet, Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends, als wir schon glaubten, Ruhe zu haben, und die Flasche aufmachten, kam Gas und quoll in die Unterstände. Wir hatten zwar rechtzeitig die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spät. Bis sie abgerissen und eine neue gefunden war, hatte er schon zu viel Gas geschluckt und brach bereits Blut. Er starb am nächsten Morgen, grün und schwarz im Gesicht. Sein Hals war ganz zerrissen – so hatte er mit den Nägeln versucht, ihn aufzukratzen, um Luft zu kriegen. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen. Papierverbände. Schwere Verletzungen. Den ganzen Tag fuhren die flachen Operationswagen herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wusste es noch nicht. Es war nicht zu sehen, weil die Decke über einem Drahtkorb lag. Er hätte es auch nicht geglaubt, denn er spürte Schmerzen in den Füßen. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. Einer sehr langsam und schwer.
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